Kita Koffer der Vielfalt

Seit Anfang 2024 geht im Eichsfeld ein Koffer auf die Reise durch die Kitas. Entwickelt wurde dieser von der Partnerschaft für Demokratie im Eichsfeld. Ziel des Koffers ist es, Vielfalt spielerisch zu begreifen und einen Grundstein für demokratisches Verständnis zu legen.

Material im Koffer

  • Material zum freien Spielen
  • Kooperationsspiele
  • Bücher, die etwas mehr Begleitung durch Erwachsene erfordern
  • Anregungen für Aktivitäten in der Gruppe
  • Handpuppen

Themen, die angesprochen werden

  • Behinderung
  • Vielfalt in der Familie
  • ethnische Herkunft/Hautfarbe sowie Rassismus
  • Körpervielfalt
  • Rollenklischees (z.B. Farben)
  • Partizipation und Kinderrechte

Da das Material sehr umfangreich ist, setzen die Kitas meist einen Schwerpunkt auf ein Thema. In einem beiliegenden Logbuch können die Kitas Ideen, Tipps und Anmerkungen zur Arbeit mit dem Koffer festhalten, so dass andere Kitas, die den Koffer ausleihen, davon profitieren können. Mithilfe der Rückmeldungen aus einem Feedback-Bogen kann der Koffer stetig weiterentwickelt und ergänzt werden.

Begleitheft zum Koffer der Vielfalt

Flyer zum Koffer der Vielfalt

Fachberater:innen als kritische Freunde der Einrichtungsteams

Anna Heinrich, Fachberatung im Verbund 2, und Agnes Steinmetzer, Fachberatung im Verbund 6, sprechen über ihre Erfahrungen (beide Träger AWO). Als zusätzliche Fachberatungen im Modellprojekt verstehen sie sich als kritische Freunde der Einrichtungsteams. Sie wollen im gegenseitigen Vertrauen mit den Einrichtungen arbeiten und das Projekt erfolgreich vorantreiben. Eine Möglichkeit der Unterstützung sehen sie im Absolvieren von Teamtrainings.

1. Frau Steinmetzer gab vor ein paar Tagen ein Team-Training in einer Einrichtung ihres Verbundes. Wie war die Vorbereitung und was war dabei wichtig?

Agnes Steinmetzer: Die Idee und das Trainings-Konzept sind gemeinsam mit Leitung, Steuerungsteam sowie Sprach-Fachberatung nach den Bedarfen des Teams entstanden – hier konnten viele Blickwinkel und Kompetenzen gebündelt werden. Die Offenheit und das Engagement des ganzen Teams war gerade für die Durchführung als Online-Format sehr unterstützend.

2. Warum sind Trainings trotz Steuerungsteams auch für das Gesamt-Team wichtig?

Anna Heinrich: Das Team ist ein ganz zentraler Punkt. Denn die Menschen im Team sind es, die mit den Kindern arbeiten, mit den Eltern im Kontakt sind, zusätzliche Maßnahmen des Steuerungsteams weitertragen und den Prozess auch über die Projektdauer hinaus im Haus verankern. Wenn das Team auf diese Weise die Chance hat, das eigene Handeln zu reflektieren und die Sensibilität für Vielfalt zu schärfen, kann viel Handlungssicherheit gewonnen werden.

3. Zu welchen Themen würden Sie gerne noch Trainings in den Projekt-Kindergärten anbieten?

Agnes Steinmetzer: Was die Kita-Teams brauchen, ist ganz unterschiedlich. Mein Steckenpferd sind dabei Themen der interkulturellen Öffnung, wie die Reflexion eigener Strukturen, Normen und Werte.

Anna Heinrich: Falls wir selbst nicht weiterhelfen können, unterstützen wir je nach Möglichkeit bei der Suche nach Referent:innen. In jedem Fall freuen wir uns darauf, die Kitas auch weiter als kritische Freunde begleiten zu dürfen.

 

Agnes Steinmetzer: a.steinmetzer@ awo-mittewest-thueringen.de
Anna Heinrich: a.heinrich@awo-mittewest-thueringen.de

Was hat Kita-Sozialarbeit mit Partizipation und Teilhabegerechtigkeit zu tun?

Jedes Kind soll seine Potentiale und Talente entdecken und entfalten können. Bildung und der Erwerb sozialer Kompetenzen sind die Schlüssel für Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe. Aber verschiedene Lebenslagen (wie zum Beispiel Kinderarmut) führen noch immer dazu, dass Chancen ungleich verteilt sind und Familien an Barrieren stoßen. Kita-Sozialarbeit kann hier ansetzen, stärken und vermitteln.

Der Auftrag von Kita-Sozialarbeit in Kindertageseinrichtungen liegt in der Erhöhung der Teilhabegerechtigkeit für Kinder und Familien in verschiedenen Lebenssituationen. Die Förderung sozialer Gerechtigkeit sowie das Streben nach Teilhabe für Kinder und Familien sollen unter den Bedingungen heterogener Lebenslagen sowie ungleicher Entwicklungs- und Bildungschancen gelingen. Laut der Bertelsmann-Studie von 2020 wächst mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Kinder- und Jugendarmut verharrt seit Jahren auf diesem hohen Niveau. Diese Zahlen sind trotz positiver wirtschaftlicher Entwicklung in Deutschland kaum zurückgegangen. Kinderarmut ist seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland und in Thüringen. Die Corona-Krise hat die Situation für von Armut betroffene Kinder und ihre Familien weiter verschärft. (vgl. Bertelsmann-Studie 2020)

Sozialarbeiter*innen erkennen unterschiedliche Ressourcen und Bedarfe von Kindern und Familien, nutzen diese und fördern Entwicklungschancen und Bildungserfolge. Sie sensibilisieren in den Kindertageseinrichtungen für ein vertiefendes Verständnis in Bezug auf die familiären Ressourcen und Bedürfnisse sowie für die Unterschiedlichkeit von Familienkulturen.

Kita-Sozialarbeit unterstützt vielfältige Möglichkeiten früher Präventionsmaßnahmen. Durch ihren Einsatz entlasten Kita-Sozialarbeiter*innen das Personal in den Kindertageseinrichtungen in seinem Auftrag, auf heterogene Bedarfe zu reagieren und den pädagogischen Alltag auf die jeweiligen Lebenssituationen und Lernbedürfnisse der Kinder auszurichten. Sozialpädagog*innen und Sozialarbeiter*innen tragen zur multiprofessionellen Ausrichtung von Kita-Teams bei, welche sich im regelmäßigen Austausch und in der gemeinsamen Zusammenarbeit gegenseitig bereichern und ergänzen. Zu den Aufgaben gehören die einzelfallspezifische, die fallübergreifende und die präventive Arbeit im Empowermentprozess für Familien. Weiterhin arbeiten Kita-Sozialarbeiter*innen intensiv mit und im Kita-Team. Sie widmen sich übergeordneten Aufgaben, wie der Bedarfsermittlung im Sozialraum, Öffentlichkeits- und Gremienarbeit, Vernetzung sowie Konzeptions- und Verwaltungsarbeit.

Kita-Sozialarbeit ist erfolgreich, wenn sie die Kita im Sozialraum mit anderen Einrichtungen vernetzt und diese Kooperationen die gemeinsame Arbeit befruchten. Auch hierdurch können Familien besser unterstützt und diese Angebote für sie zugänglich gemacht werden. Weiterhin wird die Vernetzung der Familien untereinander gefördert und das Selbsthilfepotential gestärkt. Kita-Sozialarbeit steht für einen Prozess des Empowerments der Familien, von dem bereits im frühkindlichen Bereich alle Familien profitieren. Das ist von besonderer Bedeutung, da Beratungs- und Unterstützungsbedarfe von Familien aufgrund von Belastungen und heterogenen Problemlagen zunehmen. Das Aufwachsen von Kindern unter Armutsbedingungen zieht einen Ausschluss von gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe nach sich. Familien mit Sprachbarrieren haben nur wenig Zugang zum Gemeinwesen. Sowohl die Kinder als auch die Familien können dank der Unterstützung von Kita-Sozialarbeit an entsprechenden Angeboten partizipieren und sich als selbstwirksam erleben.

Die Kindersprachbrücke Jena e.V. unterstützt mit ihrem Portfolio diesen familienzentrierten Ansatz und schärft den Blick für den Umgang mit unterschiedlichen Familienkulturen. Sie begleitet bereits Schulsozialarbeit an verschiedenen Schulen in Thüringen, Eltern-Kind-Angebote, Weiterbildungsveranstaltungen für pädagogische Fachkräfte und Leitungsteams und Projekte in Kindertageseinrichtungen. An dieser Stelle ist die Prozessbegleitung im Rahmen des Bundesprogramms „Sprach-Kitas – Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ und des Thüringer Landesprogramms „Vielfalt vor Ort begegnen – professioneller Umgang mit Heterogenität in Kindertageseinrichtungen““ zu nennen.

Andrea Kraft

Fachberatung im Thüringer Modellprojekt   „Vielfalt vor Ort begegnen

andrea.kraft@kindersprachbruecke.de

Quelle: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Factsheet Kinderarmut in Deutschland, Juli 2020.

 

Gelebte Willkommenskultur – Herzlich Willkommen in der Kita St. Bonifatius!

In der Südstadt Leinefeldes, in der Mitte einer Einfamilienhaussiedlung und zahlreicher Plattenbauten, liegt die Kindertagesstätte St. Bonifatius. Schon vor dem Projektstart kannte das Team die vielfältigen Bedarfslagen der Familien, mit den Ressourcen aus dem Projekt konnte es sie ganzheitlich aufgreifen.

Wenn die Familien am Morgen in den Kindergarten kommen, werden sie von der Mitarbeiterin aus dem Steuerungsteam an der Rezeption begrüßt. Alle Kinder und ihre Eltern kennen Frau Laube und wissen, dass sie eine wichtige Ansprechpartnerin in der Einrichtung ist. Nachdem die Eltern ihre Kinder in die Gruppe begleitet haben, kommen sie wieder bei Susanne Laube vorbei und holen sich wichtige Informationen oder bekommen sie direkt von der Mitarbeiterin. Termine für Entwicklungs- und Elterngespräche vereinbart Frau Laube mit den Eltern, Informationen zu Ausflügen und anderen Höhepunkten des Kita- Alltags erhalten sie ebenso von ihr. Das Team der St. Bonifatius spürt deutlich die Entlastung durch diese wichtige personelle Ressource. Die Mitarbeiter:innen in den Gruppen können sich voll und ganz auf ein bedürfnisorientiertes Ankommen der Kinder konzentrieren.

     

Den kleinen Monatsbeitrag für die Kindergarten-Vesper bezahlen die Eltern an der Rezeption. Die Einrichtung hat schnell die Auswirkungen von Armut auf die Kinder erkannt und festgestellt, dass nicht alle Familien in der Lage sind, ihre Kinder mit einem gesunden und abwechslungsreichen Nachmittagssnack in die Kita zu schicken, deshalb hat das Team sich das armutssensibel zur Aufgabe gemacht, den 48 der 70 Familien empfangen Transferleistungen.

Ebenfalls unterstützt Frau Laube das Team mit Übersetzungen wichtiger Informationen und Aushängen. 27 Familien mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung besuchen den Kindergarten. Um Sprachbarrieren zu minimieren oder zu überbrücken, arbeitet das Steuerungsteam mit einem Übersetzungsgerät, aber auch mit verschiedenen Bildkarten und Piktogrammen. Das Mittagessen wird im Eingangsbereich in Bildform ausgehangen und über einen Sprachbutton vorurteilsbewusst für Menschen, die die Schriftsprache nicht oder nur bedingt beherrschen, ausgegeben.

Auch die religiöse Vielfalt der Familien wird in der Einrichtung aufgegriffen. In enger Zusammenarbeit mit dem Pfarrer haben die Kinder die Möglichkeit, ihren Glauben zu leben und für andere erfahrbar zu machen. Das ermöglicht den Kindern, den Familien und den Pädagog:innen, Religionen zu verstehen und erhöht die Sensibilität füreinander.

Das Team des Kindergarten St. Bonifatius konnte sich im Projektzeitraum hinsichtlich der diversitätssensiblen pädagogischen Arbeit stärken. Diese Ressourcen werden bleiben und nun auch nachhaltig  konzeptionell verankert. Der Kindergarten St. Bonifatius ist ein gutes Beispiel für den professionellen Umgang mit Heterogenität in Kindertagesstätten.

Alexandra Ahrens (Verbund 3) Jugendsozialwerk Nordhausen e.V.

Fotos: Alexandra Ahrens

Das Eingewöhnungsbüchlein der Kita Abenteuerland in Jena

Mit unserem Eingewöhnungsbüchlein wollen wir alle neuen Kinder und ihre Familien in unserer Einrichtung Willkommen heißen.

In der Gestaltung unseres Eingewöhnungsbüchleins haben wir mit dem U3 Bereich begonnen. Das Gruppen-Maskottchen Knolli begrüßt darin die Kinder und führt sie Seite für Seite durch die Räume des U3 Bereiches. Mit wenigen Worten erklärt Knolli, wofür die Räume da sind und was man darin tun kann.

Alle neuen Familien, die im U3 Bereich Eingewöhnung haben, bekommen so ein Büchlein mit nach Hause. Dort können sie es sich gemeinsam anschauen und vorlesen. Auch Familienmitglieder, die noch nicht mit in der Einrichtung waren, beispielsweise Großeltern, können sich durch das Eingewöhnungsbüchlein ein Bild unserer Einrichtung machen.

   

Ist die Eingewöhnung abgeschlossen, geben die Familien das Büchlein wieder in unserer Einrichtung ab und die nächste Familie kann es mit nach Hause nehmen. Wir haben das Eingewöhnungsbüchlein in mehreren Ausführungen unter anderem auch auf Englisch. Für die Zukunft ist angedacht, das Büchlein noch in weiteren Sprachen und für die Ü3 Bereiche anzufertigen.

   

Wie ist das Büchlein entstanden?

Wir haben Bilder von allen für die Kinder wichtigen Räumen gemacht. Digital wurde das Maskottchen und der Text auf den Bildern hinzugefügt. Die fertig bearbeiteten Bilder wurden im A5 Format ausgedruckt, laminiert und mit Ringen zusammengebunden. Veränderungen können somit zu jeder Zeit vorgenommen werden.

Das Feedback der Eltern zum Büchlein ist sehr positiv ausgefallen. Zum einen fühlen sie sich mit dem Eingewöhnungsbüchlein noch mehr Willkommen. Den Kindern sind in den folgenden Tagen der Eingewöhnung die Räume nicht mehr ganz so fremd. Familienmitglieder, die nur selten oder gar nicht in der Einrichtung sind, können sich zum anderen ebenfalls durch das Büchlein ein Bild machen.

Unser Eingewöhnungsbüchlein wird gut angenommen und ist ein kleiner Erfolg!

Sandra Kolbe Kita Abenteuerland Jena

Bilder: Sandra Kolbe

Kita-Sozialarbeit am Beispiel der Kindertageseinrichtungen im Verbund 5 – Weimar und Kyffhäuserkreis

Soziale Arbeit in der Kita? Braucht es das? Am Beispiel einiger Kitas im Verbund 5 (Weimar, Kyffhäuserkreis), welche am Modellprojekt „Vielfalt vor Ort begegnen“ teilnehmen, ist während des Projektverlaufs einmal mehr deutlich geworden, wie wichtig Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen vor Ort in den Kindertageseinrichtungen sind.

Innerhalb des Verbundes 5 entwickelten sich auf Grund spezifischer Themen und Herausforderungen zwei Regionalgruppen (Stadt Weimar/Artern und Kyffhäuserkreis). Regelmäßig treffen sich die Steuerungsteams der Regionalgruppen zum fachlichen Austausch, für Fallbesprechungen und zum Reflektieren, abwechselnd in den jeweiligen Kitas. Diese Treffen sind für die Steuerungsteams sehr wichtig, da in diesem Rahmen wertschätzend die eigene Tätigkeit reflektiert wird und Gespräche zu Themen wie z. B. Familienarbeit im Zusammenhang mit Kinderschutz, kollegiale Fallberatungen oder Zusammenarbeit mit Netzwerkpartner:innen geführt werden können, für die im alltäglichen Tun kaum Ressourcen vorhanden sind. Es entstand der Wunsch, die Themen und Herausforderungen, welche pädagogische Fachkräfte, Leitungen und die Steuerungsteams in so genannten „Brennpunktkitas“ tagtäglich zu bewältigen haben, insbesondere für Träger und Verantwortliche des Jugendamtes der Stadt Weimar, transparenter zu machen.

„Als soziale Brennpunkte werden nach einer Definition des Deutschen Städtetages (1979) Wohngebiete bezeichnet, „in denen Faktoren, die die Lebensbedingungen ihrer Bewohner:innen und insbesondere die Entwicklungschancen beziehungsweise Sozialisationsbedinungen von Kindern und Jugendliche negativ bestimmen, gehäuft auftreten“.“ (Quelle Wikipedia)

In keiner Lebensphase eines Menschen haben die Fachkräfte der Einrichtungen einen derart niederschwelligen Zugang zu Familien mit Kindern wie in der frühen Kindheit während der Kindergartenzeit. Dies ermöglicht für Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen eine barrierearme, rechtzeitige und professionelle Unterstützung und Begleitung bei der Bewältigung der individuellen Problemlagen der Kinder und Familien. Wie breit die sozialarbeiterische Arbeit ist, zeigt sich an einigen Beispielen, die durch die zusätzlichen Fachkräfte im Projekt umgesetzt werden können .

Beispiele für das Engagement der Kita-Sozialarbeit im Verbund 5:

– Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte in schwierigen Elterngesprächen

– Unterstützung der Eltern im Kontext von Schuldenproblematiken

– Begleitung der Eltern in andere Hilfesysteme

– niedrigschwellige Beratung

– Gespräche mit Eltern im Kontext von Kinderschutzfragen

Die „Brennpunktkitas“ im Verbund 5 weisen eine hohe Heterogenität auf. Dies ist einerseits ein unverzichtbarer Gewinn, andererseits stellt es die Kitas vor Herausforderungen. Zum großen Teil treffen z. B. Kinder aus unterschiedlichsten kulturellen und sprachlichen Herkunftsfamilien, aber auch Familien, in denen Trennung der Eltern, Vernachlässigung, körperliche und psychische Gewalt, sowie Existenz-ängste eine große Rolle spielen, aufeinander. Aufgrund dessen müssen sich die Pädagog:innen dieser Kitas täglich mit ihrem Anspruch an individuelle Förderung und Begleitung der Kinder und deren Familien auseinandersetzen. Die Steuerungsteams der Kitas im Modellprojekt leisten hier einen unverzichtbaren, begleitenden, unterstützenden und entlastenden Beitrag, damit die Fachkräfte dieser Individualität im pädagogischen Alltag begegnen können.

Um die Bedeutsamkeit, Aktualität und Notwendigkeit der Kita-Sozialarbeit deutlich in die Öffentlichkeit zu tragen, haben sich die AWO Kita „Nordknirpse“, die Integrative AWO Kita „Sonnenschein“, die Hufeland Kita „Waldstadt“, die JUL Kita „Kinderland“ und die TWSD e.V. Kita „Gipfelstürmer“ dafür eingesetzt, dass sie ihr Anliegen im Kinder- und Jugendhilfeausschuss der Stadt Weimar vorstellen können. Dort wollen die Steuerungsteams in Begleitung der zusätzlichen Fachberatung aus dem Projekt „Vielfalt vor Ort begegnen“ auf die beschriebenen Herausforderungen ihrer Kitas aufmerksam machen und mit Verantwortungs- und Entscheidungsträger:innen in ein konstruktives Gespräch kommen. Ziel ist es, gemeinsam neue Strategien der bedarfsgerechteren Begleitung und frühkindlichen Bildung zu entwickeln.

An dieser Stelle geht ein großer Dank und höchster Respekt an die Steuerungsteams für ihr Engagement und die Energie, die sie zum Wohl der ihnen anvertrauten Kinder und ihren Familien in dieses Projekt legen.

Britta Fichtler und Tobias Picha, Fachberatung Verbund 5

Der Paritätische Wohlfahrtsverband, Landesverband Thüringen e.V.

bfichtler@paritaet-th.de
tpicha@paritaet-th.de

0172 2639911 oder 0171 5523334

Resilient wachsen im Kindergarten

Wenn wir an Gesundheit und Wachstum von Menschen denken, ist die Fähigkeit, sich Herausforderungen zu stellen und diese zu meistern (Resilienz) zentral.

Wenn Fachkräfte von Resilienz sprechen, geht es hierbei um den „Widerstand“ mit herausfordernden Situationen umzugehen. Resilienz beschreibt die Fähigkeit von Personen, Gemeinschaften, aber auch Systemen, schwierige (Lebens-)Situationen, Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen. (Quelle: Lexikon | BMZ / Stand 02.09.2022). Das lateinische Wort resilio bedeutet so viel wie abprallen oder zurückspringen. Das ursprünglich aus technischen Prozessen stammende Wort meint nicht, dass wir nie Stress empfinden, sondern vielmehr, dass wir einen Umgang mit ihm finden, so dass dieser zu keiner dauerhaften Belastung führt.

In der Pädagogik blicken wir dabei auf die uns anvertrauten Kinder, denen wir diese Stärke mitgeben möchten, um trotz Risiken oder Bedrohungen, Entwicklungsaufgaben und die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Hierbei ist der Raum von Kindergärten von zentraler Bedeutung, um die Lebenswelten der Kinder wahrzunehmen, Horizonte zu weiten, die Vielfalt der mitgebrachten Fähigkeiten in den Blick zu nehmen und allen Kindern Möglichkeiten zum Wachsen zu ermöglichen.

Über das Projekt „Vielfalt vor Ort begegnen“ werden Horizonte eröffnet, die es Einrichtungen ermöglichen, in sich als Kindergarten (System), als Team (Gemeinschaft) und individuell (Fachkraft, Steuerungsteam) zu wachsen. Solche Wachstumsprozesse beinhalten, dass sich Fachkräfte unterschiedlicher Professionen als multiprofessionelle Teams erleben dürfen und sich dabei  Perspektiven als Erfahrungshorizonte weiten.

Wenn man auf die geschaffenen Rahmenbedingungen im Projekt schaut, ist das Steuerungsteam mit dem Blick eines resilienten Teams, ein stärkendes Element dessen. Dies wiederum wirkt auf die Kinder und deren Fähigkeit zur Resilienz.

Dr. Florian Roth vom Competence Center Politik und Gesellschaft Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI beschäftigt sich mit der Frage, wie systemische Resilienz gefördert und dadurch Transformationsprozesse gemeistert werden können. „Anstatt vor der nächsten Krise nur Symptome zu bekämpfen (Single-Loop-Learning), sollte die Frage nach den Ursachen gestellt werden (Double-Loop-Learning).“ (Quelle: Systemische Resilienz bei Unternehmen | EY – Deutschland /Stand: 02.09.2022)

Aufbauend auf dem Resilienz-Begriff stellt Roth die Fähigkeit, dass nicht notwendigerweise die Rückkehr in den Systemzustand vor einem Ereignis, sondern eine kontinuierliche Anpassung unter sich verändernden Umweltbedingungen, ins Zentrum für Organisationen und Systeme für langfristige Entwicklungen.

Es ist unabdingbar, den Begriff „Resilienz“ in der Pädagogik und im sozialen Bereich weiter zu denken. Die Notwendigkeit stetiger Anpassung und Veränderung beschreibt der israelische Wissenschaftler Yuval Noah Harari in seinem Buch „21. Lektionen für das 21. Jahrhundert“ als Antwort auf die Frage:Was sollten wir unterrichten?“ wie folgt:

„Zahlreiche Fachpädagogen behaupten, Schulen sollen sich auf die Vermittlung der vier Ks verlegen – kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität. Allgemeiner sollten Schulen weniger Wert auf technisches Können legen und stattdessen universell anwendbare Lebensfertigkeiten in den Mittelpunkt rücken. Am aller wichtigsten wird die Fähigkeit sein, mit Veränderung umzugehen, neue Dinge zu lernen und in unvertrauten Situationen das seelische Gleichgewicht zu wahren. Wollen wir mit der Welt des Jahres 2050 Schritt hatlen, müssen wir nicht nur neue Ideen und Produkte erfinden- wir müssen vor allem uns selbst immer wieder neu erfinden.“ (2018, S.402)

Änderungen, Anpassungen sowie Neufindung erfordern die Fähigkeit des Einzelnen und gleichzeitig die Notwendigkeit von veränderungsbereiten Systemen.

Forschende am Fraunhofer ISI nutzen das Konzept der Resilienz und beschreiben Faktoren gelingender Transformationsprozesse für Systeme. Nötig dafür sind vorausschauendes Führungsdenken und mehr Freiheiten für Mitarbeiter:innen. Bei einem generell positiven Framing von Weiterentwicklung im Unternehmen verstehen Menschen, dass sie selber vom Wandel profitieren. Für Resilienz sind die Prinzipien der Selbstorganisation, Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung entscheidend.

In Arbeitsprozessen bedeutet das, nicht alles rein hierarchisch vorzuschreiben, demokratische Entscheidungsprozesse und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, Mitarbeiter:innen den Freiraum zu geben, dort Kompetenzen aufzubauen, wo sie es selbst für richtig halten und Projektaufgaben mit Leben direkt in der Praxis zu füllen.   Das in der Organisation vorhandene oder neu gewonnene Wissen ist zusammenzutragen, möglichst breit zu nutzen, zu systematisieren, einzuüben und stetig zu reflektieren, um Sicherheit in den aktuellen Arbeitsaufgaben zu gewinnen und adäquat auf sich stetig verändernde Umwelten zu reagieren.

Wie in der Stressbewältigungs-Theorie deutlich wird, lernen wir am besten in der „Komfortzone“. Die Zone, in der wir uns sicher fühlen und die dennoch einen Rahmen zum Ausprobieren bietet und in der wir Vertrauen zu uns und in das Umfeld haben. In der TPS (Theorie und Praxis der Sozialpädagogik) Spezial 10/20 steht beschrieben, dass Vertrauen in die Umwelt und in das Gegenüber als zentrales Element zu betrachten ist, um Welt zu erleben und begreifbar zu machen. Hierzu ist die positive zugewandte Haltung der erwachsenen Begleitung zentral, um das Gefühl „Ich bin richtig, so wie ich bin“ erlebbar zu machen, um sich somit „Selbst bewusst“ zu werden.

Im Sinne des Bezuges der TPS auf den Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger: „Vertrauen ist nur begrenzt technisch herstellbar und muss von reifen, reflektierten, vertrauensvollen Erwachsenen hergerufen werden“ (TPS Spezial 10/20, S. 53), schafft das Modellprojekt Rahmen, in dem für die Einrichtungen bedarfsorientierte Räume geschaffen werden, um somit alle Menschen im System der jeweiligen Einrichtung sehen und begleiten zu können. Den Kindern wird ein Rahmen des vorurteilsbewussten Raums zum Wachsen ermöglicht und Fachkräften ein Rahmen zum gemeinsamen Zusammenwachsen, durch die Begegnungen und Weiterentwicklung sich „Selbst bewusst Werdens“ geschaffen.

Elke Lorenz und Juliane Dando

Fachberatung im Thüringer Modellprojekt „Vielfalt vor Ort begegnen

lorenz@diakonie-ekm.dedando@diakonie-ekm.de

Partizipationswerkstatt Kita: Ein Gespräch über Partizipation in Kindertageseinrichtungen

Michael Wutzler, Projektkoordinator der Wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts „Vielfalt vor Ort begegnen“ an der Fachhochschule Erfurt, war Anfang Juni mit Dr. Friederike Heller über die Entwicklung von Partizipations-möglichkeiten an Thüringer Kindergärten im Gespräch. Friederike Heller ist Leiterin im Projekt „Mitgemacht – Partizipationswerksatt für Kitas“ des DisKurs e.V. in Jena. „Mitgemacht“ läuft bis September 2022 und wird durch die Robert Bosch Stiftung gefördert.

Dies ist die ausführliche Fassung des Gesprächs (hier als pdf). Die Kurzfassung finden Sie in unserem Newsletter vom Juni 2022.

Michael Wutzler: Das SGB VIII hält in § 1 Absatz 1 fest: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Auch in der UN-Kinderrechtskonvention nehmen die kindliche Selbstbestimmung und der Kindeswille einen hohen Stellenwert ein. Artikel 12 Absatz 1 der UNCRC besagt: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Nicht zu vergessen sind die Leitlinien des Thüringer Bildungsplans. Insgesamt geht daraus der Anspruch auf eine Erziehung zur Autonomie und Mündigkeit hervor. Grundlegend dafür sind einerseits die pädagogische Haltung von Fachkräften in Kitas, demokratische Rechte und die Eigenständigkeit von Kindern anzuerkennen, aber auch die strukturellen Rahmendbedingungen, also die Möglichkeiten für Kinder, sich in den Alltag und die Prozesse der Kita partizipativ einzubringen. Was sind die wesentlichen Ziele von „Mitgemacht“ und was habt ihr diesbezüglich in der Arbeit mit den Fachkräften in den Einrichtungen als herausfordernd erlebt?

Friederike Heller: Als Partizipationswerkstatt arbeiten wir bei Mitgemacht mit Teams von Kindertageseinrichtungen individuell und konsensorientiert an der Entwicklung von mehr Möglichkeiten und Angeboten der Teilhabe und Mitbestimmung für die Kinder und in den Teams. Dabei steht die ganze Organisation Kita bei uns im Fokus. Was wir sehen ist, dass die Kitas vor allem zu Beginn des Projekts etwas unsicher waren, was die Entwicklung zu Partizipation für sie bedeutet. Wichtig war es zu zeigen, dass Partizipation nichts komplett Neues ist, sondern dass partizipative Möglichkeiten bereits in unterschiedlicher Weise schon mehr oder weniger in den Einrichtungen etabliert sind. An diese Potenziale knüpfen wir an. Deshalb geht es uns im ersten Schritt darum, ressourcenorientiert Schätze zu bergen. Wir nutzen dazu eine Methode namens „Unser Kita-Haus“, da schaut das Team organisationsumfassend, in welchen Bereichen die Kinder (schon) Mitsprachemöglichkeiten in welchem Umfang haben. Und wenn nicht, warum dies nicht der Fall ist. Das ergibt dann oft schon ein gutes Bild und zeigt, dass die Fachkräfte überhaupt nicht bei null anfangen. Die anfängliche Unsicherheit wandelt sich dann meist schnell in Motivation, eine Haltung, die wir auch zum größten Teil in den Kitas erleben. Die Entwicklung zu mehr Partizipation ist dann nicht etwas, was zur alltäglichen Arbeit hinzukommt, kein extra Aufwand oder eine zusätzliche Belastung, sondern eine erweiternde Perspektive und bereichernder Bestandteil dessen.

Michael Wutzler: Partizipation zu erfahren ist ja nicht einfach nur ein abstraktes Recht, sondern in der kindlichen Entwicklung von Bedeutung, damit Kinder erleben, dass sie eine eigene Perspektive haben, die anerkennend und wertschätzend aufgegriffen wird. Außerdem um zu verstehen, dass etwas zwischen Wunsch und Umsetzung liegt und dass es für die Gestaltung der eigenen Lebenswelt den Austausch und Ausgleich unterschiedlicher Perspektiven bedarf. Als Element der frühen Demokratiebildung sind individuelle Autonomie, Respekt und Achtung nicht nur persönlich, sondern generell für liberale Demokratien essenziell. Wenn Kinder von Beginn an einbezogen werden, weil sie lernen, dass ihre Stimme zählt und dass sie etwas bewirken können, und wenn sie lernen, sich mit Dissens auseinanderzusetzen und Perspektivenwechsel üben, stärkt dies das Miteinander in demokratischen Gesellschaften allgemein. M.E. wird über Partizipation sehr deutlich, was sowohl unter Selbstbestimmung als auch Gemeinschaftsfähigkeit verstanden werden kann und wie eng beide Aspekte miteinander verwoben sind. In partizipativen Prozessen können Kinder grundlegende Selbstwirksamkeitserfahrungen machen und sich in Resonanz mit ihrer Umwelt erfahren. Möglichkeiten der Partizipation stärken die Entwicklung der Kommunikations- und Konfliktkompetenzen. Frühe Demokratiebildung stärkt die Persönlichkeit jedes einzelnen Kindes und ein friedliches wie kompromissbereites gesellschaftliches Miteinander. Wie knüpft ihr an Eure Ausgangsanalyse mit den Kindergärten dann weitergehend an?

Friederike Heller: Diese Einschätzung liegt auch unserem Projekt zugrunde. Wir schauen dann mit den Kita-Teams genau, was hier bereits gut läuft und wo sie sich weiterentwickeln können. Es ist wichtig zu schauen, wo die Kitas das Bestehende aufmachen und wo sie zulassen können, dass Kinder mehr mitsprechen und mehr mitentscheiden können. Das ist sehr unterschiedlich in den Kitas. Es gibt Kitas, da ist es extrem offen und es gibt Kitas, die sind erstmal eher zurückhaltend. Manchmal ist der Fokus der Leitung hier auch ein anderer als der des Teams. Hilfreich ist hier auch ein Input von uns, durch Filme oder auch von außen, bspw. über einen Austausch mit anderen Kitas oder gegenseitige Hospitationen, um den eigenen Blick zu weiten und zu sehen, was die anderen Kitas machen.

Michael Wutzler: Das erleben wir auch im Projekt, dass der Wunsch zum Austausch über Praxisbeispiele, -erfahrungen und die Inspiration durch andere Kitas sehr groß ist. Vor allem über die Fortbildungen, die Verbundtreffen, aber auch über die Präsentationen der Arbeit der Kitas hier im Newsletter oder auf der Website (Einblicke in die Praxis) bieten sich dazu vielzählige Möglichkeiten. Man erfährt, was gut oder vielleicht nicht gut gelungen ist und was es zur Umsetzung mancher Idee braucht. Zudem wird deutlich, dass viele Herausforderungen ähnlich sind und man kann voneinander lernen. Grundlegend ist zunächst eine umfassende Informiertheit der Fachkräfte und Kitaleitungen. Ein wichtiger Schritt ist jedoch die Bereitschaft, die eigenen Routinen zu hinterfragen und Alternativen zuzulassen. Grenzen der Partizipation sollten nicht aus Bequemlichkeit gesetzt werden. Partizipation wird dann zur Chance.

Friederike Heller: Genau, ein Ansatz kann darin bestehen, die Perspektive umzudrehen, sich vorzustellen, die Welt ist ein ganz freier Raum und es gebe kein Nein. Jedes Nein muss pädagogisch gerechtfertigt werden. Es ist wichtig, die Gründe explizit zu machen; Das kann bedeuten, bei jeder Art der Beschränkung der Selbstbestimmung der Kinder im Alltag kurz vorher einen Marker zu setzen: Verbiete ich etwas, weil es gefährlich ist? Was würde passieren, wenn ich es nicht verbieten würde? Warum sage ich nein, wenn Kinder etwas ausprobieren wollen, wenn sie irgendwo hochklettern, von einer anderen Person gewickelt werden oder ihre Suppe mit der Gabel essen wollen? Es ist wichtig solche Dinge zu hinterfragen, die Gründe explizit zu machen und zu sagen, lasst sie doch mal ausprobieren. Dieser Perspektivwechsel und die Welt als freien Raum zu verstehen und jede Einschränkung begründen zu müssen, das ist eine Perspektive, die Erzieher:innen nicht selten neu ist, weil sie oft in ihren Routinen für sich ganz klar haben, was Kinder dürfen und was nicht. Das ist ein schönes Bild, das oft noch nachklingt.

Michael Wutzler: Das finde ich sehr wichtig, da es zwei Aspekte verdeutlich. Erstens können Kinder erleben, dass Regeln begründet werden müssen, denn erst über das Verstehen der Gründe hinter den Regeln kann man sie als wertvoll oder sinnvoll erfahren. Dann halten Kinder sich nicht aus Disziplin daran, sondern bestenfalls auf Basis der eigenen Zustimmung. Wenn man Kinder bei der Regelfindung einbezieht, dann sind sie viel gewillter die Regeln auch einzuhalten, weil es ja ihre eigenen Regeln sind. Anfangs wirken manche Regeln aus Erwachsenen-Perspektive vielleicht etwas komisch, aber das reflektieren Kinder dann auch, wenn man sich nach ein paar Tag mit ihnen gemeinsam hinsetzt und sie fragt, wie es mit den gefundenen Regeln geklappt hat. Das ist natürlich ein offener Prozess. Zweitens dreht der Perspektivenwechsel den Weg zu Partizipation um und verortet auch die Verantwortlichkeit dieses Weges klar bei den Erwachsenen. Es wird nicht gefragt, wo man sich für Kinder eventuell noch partizipativ öffnen kann, sondern wo es überhaupt sinnvoll ist Partizipation und Eigenständigkeit zurückzufahren. Der Raum an Möglichkeiten wird dabei erstmal als offen verstanden. Viele Beschränkungen übernehmen wir ja aus den eigenen Erfahrungen als Kind, aus Regeln, die auch uns nicht erläutert wurden. Oft ist es ja der Stress im Arbeitsalltag, der uns daran hindert, die Gedanken freizulassen, Regeln zu hinterfragen und sich einzulassen auf neue Konzepte und aufs Ausprobieren. Gerade jetzt mit dem Ende der umfangreichen Corona-Beschränkungen, die das Miteinander extrem reguliert haben, geht es zurück in die Zukunft und Teams müssen wieder zu einer vorher bereits bestandenen Offenheit zurückfinden. Dies ist ja auch eine Chance, neue Wege zu gehen. Aber es darf auch nicht vergessen werden, mit den Kindern über ihre Erfahrungen in der Pandemie zu sprechen.

Friederike Heller: Durch Corona kam eine sehr hohe Belastung für die Teams hinzu und auch für die Kinder waren die Bedingungen ganz anders. Kitas, die offene Konzepte gelebt haben, mussten dies zurückfahren, auch die Eltern mussten größtenteils aus den Häusern raus. Jetzt ist es wichtig, zu realisieren: Die Situation ist zwar belastet, aber auf lange Sicht hilft es als Team, wieder viel mehr ins Gespräch über die Strukturen der eigenen Arbeit zu kommen und partizipativ gemeinsame Orientierungspunkte zu finden. Oft werden unterschiedliche Vorgehensweisen in den einzelnen Gruppen einer Einrichtung als belanglos angesehen. Es sei doch nicht so schlimm, wenn die Parallelgruppe das anders macht. Es ist aber wichtig, dass pädagogische Grundlagen der Arbeit im Team im Konsens entschieden werden. Auch um im Team eine Sicherheit zu haben, bspw. wenn es um den Mittagsschlaf oder das Essen geht: Müssen die Kinder alles probieren? Müssen sie Lätzchen tragen? Gibt es nur Nachtisch, wenn aufgegessen wurde? Für die gemeinsame Arbeit ist es zumindest mittelfristig erleichternd, wenn das ganze Haus sich abstimmt. Das kann bis zu einer partizipativen Leitung der Einrichtung gehen. Und wenn das Team für sich klar ist, dann haben sie auch leichter die Eltern hinter sich, weil diese nicht sagen können: „In der Nachbargruppe die Erzieherin, da ist das doch ganz anders, warum dürfen die Kinder das, warum müssen die keine Matschhosen anziehen?“

Michael Wutzler: In unseren Fortbildungen arbeiten wir bspw. dran, wie Teams grundlegend gemeinsame Werte der Teamarbeit und pädagogischen Arbeit finden, um daran aufbauend an der Konzeption und Verstetigung von inklusiven Strukturen zu arbeiten sowie Diskriminierung vorzubeugen. Dahingehend schlagen wir einen Dreischritt der konzeptionellen Qualitätsentwicklung vor. Zunächst sollte die Frage geklärt werden, wohin man als Kita oder Team will (Qualitätsanspruch), anschließend sollten die Qualitätskriterien festgehalten werden, die die Aspekte und Dimensionen dieses Ziels definieren. Schließlich braucht es konkrete Indikatoren der Zielerreichung, also evaluierbare Einzelschritte. Ein gelingender Transformationsprozess braucht natürlich gegenseitige Wertschätzung und wechselseitiges Verständnis füreinander, aber dies ist ja auch grundlegend für eine partizipative Haltung. Sich bewusst Zeit zu nehmen während der Fortbildungen, aber auch der Verbundtreffen, gibt dann die Möglichkeit, aus dem Stress des Alltags heraus und mit anderen Fachkräften ins Gespräch zu kommen. Der Austausch wird nicht nur als sehr wichtig erfahren, sondern er kann ein Impuls sein, den man mit in die eigene Einrichtung nimmt, um dort etwas Neues anzustoßen oder auszuprobieren.

Friederike Heller: Wir machen mit den Fachkräften oft Biographiearbeit, um die Haltungen, Wünsche und Bedürfnisse für einen selbst zu reflektieren und im Team wechselseitig zu verstehen. Darüber hinaus haben wir auch die Professionalität der Einzelnen und der Teams im Blick, entwickeln Ideen und Leitlinien, die wir auch konkret aufschreiben lassen – ansonsten gehen die Impulse oft verloren und werden nicht verstetigt. Wir haben leider wenige Kitas, die es geschafft haben, ihre Partizipationskonzepte in eigenen Verfassungen aufzuschreiben. Das ist ein großer Aufwand, aber darauf könnte jede:r in der Kita zurückgreifen, bspw. kann man es neuen Kolleg:innen an die Hand geben. Je mehr festgehalten ist, es also Transparenz und Konsens gibt, desto besser funktioniert die gemeinsame Orientierung der pädagogischen Arbeit und desto mehr Klarheit gibt es im Team. Das Paradoxe ist, dass es Regeln braucht, um gemeinsam Offenheit und partizipative Strukturen zu etablieren.

Michael Wutzler: Eine Verständigung innerhalb des Teams auf das Wie wollen wir die Partizipation tatsächlich leben ist unerlässlich. Sowohl um partizipative Strukturen nachhaltig zu sichern, als auch um qualitativ gut zu arbeiten. Erst wenn man sich im Team gemeinsam Gedanken gemacht hat, kann man auf Basis allgemeiner Qualitätsstandards anhand des gefundenen Handlungsleitfadens und der damit einhergehenden Indikatoren transparent und offen prüfen, ob man dem eigenen Anspruch auch gerecht wird. Die Verschriftlichung sichert das Erreichte und damit die Rechte und Möglichkeiten der Kinder und Mitarbeitenden. Konzeptarbeit wird ja oft als sehr anstrengend empfunden, ist aber unabdingbar für die Qualitätsentwicklung in Kindergärten.

Friederike Heller: Um Worte zur ringen ist ein trockener Job, auf den viele keine Lust haben, denn es ist nicht das, was man in der Praxis zunächst erwartet. Aber wir haben noch nie erlebt, dass eine Kita nach der Konzeptarbeit sagt, dass es ist nicht besser geworden wäre. Man muss eben erstmal kollektiv Arbeit hineinstecken.

Michael Wutzler: Hilfreich ist dabei auch ein multiprofessionell zusammengestelltes Team mit unterschiedlichen beruflichen und Erfahrungshintergründen. Mit welchen Methoden arbeitet ihr noch, um die partizipativen Strukturen in Kindergärten zu stärken bzw. die Kita-Teams in ihrer Qualitätsentwicklung und in Change-Prozessen zu unterstützen?

Friederike Heller: Das Systemische Konsensieren ist eine wertvolle Methode, um ein Konzept oder Leitlinien zu beschließen. Dabei arbeiten mehrere Gruppen Konzepte oder Ideen zu einem Thema aus und man arbeitet mit Widerstandspunkten, die man zu den Vorschlägen kleben muss. Darüber kommt man dann zu Nachfragen und einem Austausch über persönliche oder kollektive Wünsche und Befürchtungen. Es wird danach mit dem Vorschlag, der die wenigsten Widerstandspunkte im Gesamtteam bekommen hat, weitergearbeitet. Aber auch da werden die Menschen mit hohem Widerstand befragt und ehrlich deren Gründe oder Bedenken eingeholt. Nach den vier Schritten der demokratischen Beteiligung wird anschließend geschaut, was getan werden kann, um kreativ eine Lösung zu finden, damit diese Personen auch mitgehen können. Wir hatten eine Kita im Projekt, da hat eine Erzieherin aus dem Kleinkindbereich gesagt: „Ich halte es nicht aus, dass die Kinder mit den Fingern essen.“ Die anderen Kolleginnen wollten, dass die Kinder das Essen auch mit den Fingern greifen können. Und das Team hat durch diese Methode eine Lösung finden können. Die Erzieherin hat für sich gelernt wegzugucken und wusste, ihre Kolleginnen waschen die Finger der Kinder und wischen den Tisch ab. Das war ein schöner einprägsamer Moment. Man kann vielleicht nicht immer alle hundertprozentig mitnehmen, aber so dass es zumindest keine:n gibt, der oder die völlig gegen den gemeinsam gefundenen Weg steht, das schafft man.

Michael Wutzler: Die Auseinandersetzung mit den Themen Vielfalt, Inklusion oder Partizipation ist ja ein Prozess, bei dem man immer wieder dazulernt. Es gibt ja keinen Punkt, an dem man festhält, ja, jetzt sind wir divers aufgestellt und fertig. Infolge sind auch Widerstände in Qualitätsentwicklungsprozessen permanente Begleiter. Wer Entwicklungen anstößt, ist ja häufig mit Sätzen konfrontiert wie: „Das machen wir hier schon immer so.“ „Das hat schon immer funktioniert.“ „Das brauchen wir hier nicht.“ Um dem zu begegnen und möglichst alle mitzunehmen, ist ein wertschätzender Perspektivwechsel und ein vorurteilsbewusstes Miteinander notwendig. Die den Widerständen zugrundeliegenden Gefühle sowie Bedürfnisse herauszuarbeiten und die gemeinsamen Werte und verbindenden Ziele zu finden, ermöglicht, einen gemeinsamen Weg zu definieren und zu beschreiten. Wandel und Veränderung sind ja keine bloßen Zurückweisungen des Alten und Gewohnten, sondern Möglichkeiten des Lernens, der individuellen wie kollektiven Entwicklung sowie der bewussten Gestaltung der gemeinsamen Arbeit und der Lebenswelt der Kinder. Mit deinen Erfahrungen im Projekt, was würdest du sagen, in welchen Bereichen fällt es den Fachkräften in Kindergärten oft schwer, Partizipation zu ermöglichen oder wo gibt es in der Regel Widerstände?

Friederike Heller: Die wirklich schweren Themen sind immer Schlafen und Essen. Viele Fachkräfte hängen sehr am Mittagsschlaf als tatsächliche Liege- und Schlafzeit. Da gibt es viel Konfliktpotenzial und manche Erzieher:innen leiden richtig unter einer Schlafpflicht der Kinder. Das geht bis dahin, dass sie notfalls die Kita wechseln oder ihren Job aufgeben wollen. Hier ist auch der Einfluss der Eltern stark. Manche wollen nicht, dass ihre Kinder ohne Mittagsschlaf abends so zeitig ins Bett gehen müssen und sie dann kaum Zeit mit ihnen haben; andere wollen nicht, dass ihre Kinder mit Mittagsschlaf noch bis in den späten Abend hinein wach sind. Deshalb ist es wichtig, gemeinsame Regeln zu finden und alle im Team und auch die Eltern gut mitzunehmen. Aber auch hier bewegt sich in den Kitas in Thüringen etwas und die Mittagszeit wird auch mit der Orientierung an individuellen Bedürfnissen in den Kitas inzwischen sehr vielfältig umgesetzt. Zu Beginn einer Umstellung der Mittagszeit ist es meist zunächst schwer und es geht die ersten Wochen in der Einrichtung manchmal etwas drunter und drüber, weil neben den Fachkräften und Eltern natürlich auch die Kinder einen neuen Weg und eine neue Routine finden müssen, sich da ausprobieren und manchmal sich selbst auch erstmal falsch einschätzen. Da durchzugehen ist herausfordernd, aber es lohnt sich.

Michael Wutzler: Unterstützend und erleichternd ist immer die gute Zusammenarbeit mit dem Träger der Einrichtung. Eine Schwierigkeit ist hier aber sicher auch die Fluktuation der Mitarbeitenden. Wenn ein Team langfristig zusammenarbeiten kann, muss man in der Konzeptarbeit nicht immer wieder neu anfangen, man kann von einem grundlegenden Vertrauen und Verständnis füreinander zehren. Grundlegend ist es, dass die Miatarbeitenden kollektiv und agil Verantwortung für den eigenen Arbeitskontext und sich selbst übernehmen. Dies funktioniert natürlich am besten in bereits bestehenden partizipativen Strukturen. Sicher ist es hierbei hilfreich, jemanden im Team zu haben, der oder die nicht fest in der Gruppenarbeit und auch nicht in der Leitungstätigkeit eingebunden ist, sondern bspw. wie in den Steuerungsteams des Modelprojekts, auch mal über den Tellerrand hinausschauen kann und über das bestehende Personal und die eigenen Routinen hinaus Prozesse der Qualitätsentwicklung anregt und nachhaltig verstetigt. Hast du noch ein weiteres Beispiel?

Friederike Heller: Ein weiteres Beispiel sind feste Angebote. Oft sind das Lieblingsthemen der Erzieher:innen. Manchmal haben die Kinder aber einfach keine Lust drauf. Weil die Fachkraft da aber so viel Herzblut in die Vorbereitung gesteckt hat, fällt es durchaus schwer, von der bereits geleisteten Arbeit auch wieder loslassen zu können und zu sagen: „Ich mach ein freiwilliges Angebot daraus.“ Zu diesem Wahlangebot gehört m. E. auch der Vorschulbereich, bspw. dass alle mit der Schere schneiden lernen sollen. Da haben die Kindergärten auch oft Ärger mit den Grundschulen, wenn die Kinder bestimmte Fähigkeiten nicht mitbringen, da sie sich in der Kita selbstbestimmt nach ihren Bedürfnissen für andere Dinge entschieden haben. Da wird vergessen, dass sie dafür dann meist mehr Selbstkompetenz im Übergang in die Schule mitbringen. Sie können vielleicht nicht mit der Schere schneiden, wissen aber was sie wollen und können, was sie nicht wollen und trauen sich, das dann auch zu sagen. Hier können sich die Kitas auf den Weg machen und sich noch stärker an den Bedürfnissen der Kinder orientieren.

Michael Wutzler: Hierbei gibt es verschiedene Herausforderung, je nachdem ob man einen Zoobesuch mit 100 Kindern plant oder einen Waldspaziergang mit zehn Kindern. Auch die Kompetenzen und Selbstwirksamkeitserfahrungen, die die Kinder von zuhause mitbringen bzw. sich schon angeeignet haben, spielen eine Rolle. Aber für alle Situationen gibt es individuelle Wege, Abstimmungsverfahren und Möglichkeiten der Partizipation für Kinder. Elementar ist der Raum für Experimente und Lernerfahrungen. Nicht alles muss gleich perfekt passen oder ohne Probleme funktionieren. Das bedeutet auch, in Abstimmungsprozesse zu gehen und die vielfältigen Bedürfnisse zu vermitteln. In der Zusammenarbeit mit Grundschulen braucht es dann eine gute Kommunikation. Dabei ist die Vernetzung im Sozialraum wichtig, die bspw. über Kita-Sozialarbeiter:innen gesichert werden kann. Vielleicht nochmal zurück zu den Eltern oder Sorgeberechtigten allgemein: Welche Erfahrung habt ihr in Bezug auf die Zusammenarbeit der Fachkräfte in der Entwicklung partizipativer Prozesse gemeinsam mit den Eltern gemacht?

Friederike Heller: Wir haben Kitas auch in der Elternarbeit begleitet und Elternabende organisiert oder moderiert. Ich erlebe oft, dass Erzieher:innen sich selbst in ihrer Profession nicht anerkannt fühlen. Sie machen sich vorher so viele Gedanken und manche Eltern reden das mit einem Wusch weg: „Das könne doch eigentlich jeder, warum braucht man da eine Ausbildung, was macht ihr denn groß, außer spielen und aufpassen.“ Darunter leiden die Teams oft. In Kitas gelingt es unterschiedlich gut, Eltern mitzunehmen. Eltern sind natürlich unterschiedlich stark engagiert bspw. bei Festen oder Aufräumtagen. Elternsprecher:innen gibt es immer, manche Kitas arbeiten auch mit Stundensystemen, wo Eltern eine bestimmte Stundenanzahl im Jahr in der Kita helfen müssen. Was ich erlebe ist, wenn die Fachkräfte miteinander klar sind, dann schaffen sie auch, die Eltern einzubinden und zu überzeugen. Aber wenn es kein einheitliches Handeln gibt oder Klarheit über partizipative Leitlinien, dann wird es schwierig. Es gab einen Fall, da kam ein Vater mit einer offen gezeigten Neonazi-Tätowierung in die Kita. Die Fachkräfte sagten aber alle nichts, da es an der gemeinsamen Absprache und gegenseitigen Versicherung fehlte. Gemeinsam zu entscheiden, dass man das nicht duldet, da die Kita einen demokratischen Auftrag hat, ist entscheidend, um dem entgegenzutreten und für ein einheitliches Handeln in ähnlichen Situationen. Da fehlen oft der Konsens im Team und das Standing gegenüber den Eltern, der Kommune oder dem Träger.

Michael Wutzler: Das war sicher keine leichte Situation, aber damit keine:r Gefahr läuft, die Person allein konfrontieren zu müssen oder es von der Courage einzelner Fachkräfte abhängt, sind kollektive Absprachen mit klaren Grenzen und Vertrauen in der Teamarbeit enorm wichtig. Hier sind auch die Leitungen ganz stark gefragt, voranzugehen. Der Schutz der Kinder, die Eltern mit rechtspopulistischen oder -extremen Weltbildern haben, in ihrer Familiarität als auch freien Entwicklung zu einer demokratischen und respektvollen Person, ist besonders spannungsreich. Im Rahmen der Veränderungsprozesse in Kitas müssen Eltern manchmal erst ein Gefühl dafür entwickeln, dass es heute anders läuft, als zu der Zeit als sie selbst im Kindergarten waren. An dieser Differenzerfahrung anzuknüpfen scheint mir enorm wichtig zu sein. Orientierung können in der Etablierung partizipativer Strukturen in Kindergärten auch konkrete Ansätze geben, wie bspw. der Anti-Bias-Ansatz, der Index für Inklusion, Social Justice & Radical Diversity oder die Reckahner Reflexionen. Welchen Input gebt ihr den Kitas mit?

Friederike Heller: Wir starten mit einem theoretischen Rundblick zu gesetzlichen Grundlagen, also auf welchen rechtlichen Grundlagen fußt Partizipation in der Kita: bspw. den Thüringer Bildungsplan und das Kindergartengesetz. Damit wird für die Einrichtungsteams deutlich: Wir machen hier nichts, was wir uns einfach ausdenken, sondern aufgrund gesetzlicher Grundlagen vorgegeben ist. Daran anknüpfend haben wir das Glück, bedarfsorientiert und flexibel mit den Kitas arbeiten zu können und dabei greifen wir auf einen großen Methodenpool zurück. Wir haben bspw. mit Kitas auch am Kinderschutzkonzept, Beschwerdemanagement oder über Betzavta gearbeitet. Das primäre Thema ist jedoch oft die allgemeine Struktur oder Konzeption der Kita. Viele Fachkräfte sind der Meinung, dass sie die Beschwerden der Kinder schon ausreichend hören. In der Reflexionsarbeit wird dann sichtbar, was darüber hinaus noch möglich ist. Leitungssprechstunden sind bspw. eine Möglichkeit für die Kinder, um sich in einem sicheren Rahmen mitzuteilen. Wir haben mit manchen Kitas Vertrauenspersonen durch die Kinder wählen lassen. Wir haben eine Kita, in der haben die Kinder die Küchenfrau gewählt. Da waren die Erzieher:innen baff, aber die Kinder haben gesagt: „Wir laufen da doch eh immer vorbei, erzählen ihr alles und sie versorgt uns mit gutem Essen.“ Das fand ich schön und es öffnete den Blick dafür, wer denn alles zum Kita-Team dazugehört.

Michael Wutzler: Elementar ist ja das Grundverständnis zum Verhältnis Kind-Erwachsene und das Bild, das man von Kindern hat: sie nicht nur als verletzlich und schutzbedürftig zu sehen, sondern sie in ihrer Eigenständigkeit und ihren Fähigkeiten anzuerkennen und ihnen auch auf Augenhöhe zu begegnen. Hier spielen Machverhältnisse, generationale Ordnungen und Adultismus, also Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund des jungen Alters, eine Rolle. Wird das in den Kindergärten angenommen, sich auch über abstrakte Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen oder gibt es da Vorbehalte bei den Fachkräften?

Friederike Heller: Wir bekommen oft den Auftrag, an der Haltung im Team zu arbeiten. Verbreitete Beispiele sind, dass Fachkräfte sich Kinder einfach von hinten schnappen und hochheben oder verniedlichend über den Kopf streicheln, ohne das Einverständnis dafür beim Kind einzuholen. Oft erfahren sich Fachkräfte im Alltagsstress, mit Blick auf biografische Erfahrungen oder die politischen Vorgaben als machtlos, vergessen dabei aber, welche Macht sie in ihrer Position als Erwachsene gegenüber den Kindern haben. Das wollen die Erzieher:innen manchmal nicht wahr haben, so sehen sie sich oft nicht. Wir versuchen da biografisch zu arbeiten oder für die Fachkräfte Anker zu setzen. Unterstützend ist im Handlungstraining und der Qualitätssicherung insbesondere die videografische Reflexionsarbeit. Diese ist wahnsinnig aufwendig, aber es ist sehr effektiv, sich einmal aus einer anderen Perspektive zu erleben. Oft sind es die lieb gemeinten Dinge, die als übergriffig erfahren werden: über den Kopf streicheln beispielsweise. Ein Thema ist auch Hygiene: Viele sind sich nicht bewusst, dass Kinder da ganz sensibel sind. Bspw. sollten Kinder entscheiden dürfen, wer sie wickelt. Da sagen die Teams immer, dass sie den Wünschen der Kinder nachkommen. Da aber auch die kleinen Signale wahrzunehmen, wenn das Kind sich bspw. kurz fest macht, sich selbst auch kritisch zu hinterfragen, das bleibt doch viel zu oft aus. Von einer bestimmten Person gewickelt werden zu wollen, basiert in der Regel auf einem Wunsch nach Sicherheit, die mit Gewohntem einhergeht. Das heißt umgekehrt nicht, dass andere das schlecht machen würden.

Michael Wutzler: Besser bekannt sind auch die Stufen der Partizipation. Diese verdeutlichen unterschiedliche Grade der Beteiligung. Je umfassender Schritt für Schritt die Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder sind, desto besser können Kinder sich dabei auch individuelle Kommunikations- und Konfliktkompetenzen aneignen. Sie lernen ihre Bedürfnisse zu äußern, mit den Bedürfnissen und Argumenten anderer umzugehen, aber auch persönlich oder kollektiv Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen. In der Regel in einem begleiteten Rahmen. Eine Herausforderung ist sicher die Abwägung, wie viel kindliche Selbstbestimmung man mit Blick auf das Kindeswohl und die kindliche Entwicklung zulässt. Siehst du da Grenzen der Partizipation, was ist möglich und wo sollte man mit Blick auf das Kindeswohl vielleicht auch vorsichtig sein?

Friederike Heller: Was wir in den Kitas erleben, wenn wir diese Stufen einführen, ist oft so ein Schreck: „Oh Gott, müssen wir jetzt überall auf die höchste Stufe? Sollen die Kinder jetzt überall selbst bestimmen dürfen?“ Das ist gar nicht das Ziel. Ich sehe ganz viele Bereiche, wo Kinder im Kitaalltag zumindest mitbestimmen oder wo sie selbst entscheiden können: Spielen, Angebote wahrnehmen, wann gehe ich auf die Toilette, wann trinke ich etwas. Mit den Stufen gehen aber auch Regeln einher. Selbstbestimmung bedeutet nicht, alles einfach laufen zu lassen. Ganz im Gegenteil: Kinder können keinen Ausflug allein machen oder völlig allein entscheiden, wo es hingeht. Man kann nicht schwimmen gehen, wenn es keine:n Rettungsschwimmer:in gibt. Angebote gehen immer auch mit Bedingungen einher, die Kinder manchmal noch nicht überblicken können. Aber ansonsten sehe ich in allen Kitas Potenzial, es ist viel mehr Selbstbestimmung möglich als die meisten glauben. Selbstbestimmte Entscheidungen sind ja immer auch eine Chance zu lernen.

Michael Wutzler: Und eine Chance, sich von den Kindern überraschen zu lassen. In der Praxis macht man sich dann auf einen individuellen Weg, um in einem Zusammenspiel und Abgleich zwischen Offenheit, Experimentierfreude, klaren pädagogischen Vereinbarungen, organisatorischen Notwendigkeiten, aber auch individuellen Bedürfnissen der Fachkräfte und Kinder echte partizipative Möglichkeiten auszubauen und zu stärken. Über die individuelle Haltungsebene, die Interaktion mit den Kindern und im Team sowie die Organisationsstruktur hinaus, was sollte sich deiner Meinung nach strukturell im System der Frühen Bildung ändern, damit mehr Partizipation in Kindergärten möglich ist?

Friederike Heller: Ich setze auf große Heterogenität und Multiprofessionalität in den Teams, auf gute Leitungsfortbildungen und Teamentwicklungstage. Die Profession muss gesellschaftlich gestärkt werden und es muss ihr mehr Ansehen entgegengebracht werden. Wichtig ist auch mehr Personal in den Kitas und eine zielgerichtete Finanzierung. Beispielsweise über Bonusmittel oder Sozialraumbudgets. Eine Krankenschwester in der Kita wäre großartig oder koordinierte Unterstützer:innentreffen.

Michael Wutzler: Das ist ja leider zum Teil gar nicht so leicht möglich in Thüringen. Es ist relativ streng geregelt, wer mit welcher Qualifikation in einem Kindergarten eingestellt werden kann, auch was die Eingruppierung in Entgeltgruppen angeht. Da ist das Modellprojekt „Vielfalt vor Ort begegnen“ ja eine Ausnahme. Mit der passenden Idee könnte auch eine Tischlerin angeworben werden. Gerade hinsichtlich des Fachkräftemangels gibt eine multiprofessionelle Ausrichtung den Einrichtungen mehr Flexibilität. Enorm wichtig ist es, die Teams auch hinsichtlich der Erfahrungshintergründe divers aufzustellen, damit sie bestenfalls auch die Lebenswirklichkeit der Kinder widerspiegeln. Demokratische Beteiligungsstrukturen als ein Element vorurteilsbewusster Erziehung kann Folgen sozialer Ungleichheiten entschärfen und ermöglichen es, den diversen Bedürfnissen heterogener Gruppen nachzukommen. Ein weiteres Thema in Bezug auf partizipative Strukturen ist die Projektarbeit mit den Kindern. Welche Erfahrungen habt ihr diesbezüglich gemacht?

Friederike Heller: Bezüglich der Angebote stellt sich die Frage, wer Themen einbringt und wie vielfältig diese sind. Wie werden Kinder in die Themenauswahl einbezogen? Gerade in der offenen Arbeit kann man Kinder gut beobachten, auf deren Interessen eingehen und Themen aufgreifen. Bspw. Feste oder die Raumgestaltung bieten hier viele Möglichkeiten. Je weiter die Kitas sind, desto kleinteiliger können sie Prozesse partizipativ mit den Kindern gestalten.

Michael Wutzler: Die Raumgestaltung ist auch Thema unseres Juni-Newsletters in der Rubrik Beiträge der Kinder im Modellprojekt, in der wir themenspezifische Anregungen für die Praxis vorstellen, welche dazu dienen, auch die Kinder aus den Modelleinrichtungen über partizipative Angebote aktiv einzubeziehen. Sie bieten ihnen einen Raum, um als Projektbeteiligte mit ihren Perspektiven sichtbar zu sein und für Kinder wie Fachkräfte die Gelegenheit, sich praktisch mit Vielfaltsthemen auseinanderzusetzen. Im Juni 2022 ging es darum, Wohlfühlorte zu finden und wie der Kindergarten aus der Perspektive der Kinder umgestaltet werden kann. Dabei ist ein Rundgang durch die Kita eine gute Möglichkeit, um über die Wohlfühlorte mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, gerade auch als Ausgangspunkt, um den Kindergarten qualitativ weiterzuentwickeln.

Friederike Heller: Bei der Qualitätsentwicklung wird sehr oft vergessen, auch die Zielgruppe, also die Kinder selbst, mit einzubeziehen. Da sind bspw. auch die Leon und Jelena Hefte zur Mitbestimmung interessant, die auf echten Fällen beruhen. Manche Teams schauen sich die Bücher an und plötzlich ergeben sich ganz neue Möglichkeit, Strukturen in der Einrichtung zu verändern, da bspw. unter bestimmten Bedingungen auf die Matschhosen, die viele Kinder wirklich hassen, zu verzichten. Oder Kinder fragen nach dem Anschauen der Hefte: „Warum gibt es das in unserer Kita nicht?“. Manchmal sind es ganz leichte Stellschrauben, wo man als Erwachsener merkt, da muss ich meinen Blick kurz wechseln und dann ist vieles für die Kinder möglich.

Michael Wutzler: Von der Bertelsmann-Stiftung gibt es das Methodenset Achtung Kinderperspektiven, in dem unterschiedliche Methoden beschrieben und verständlich aufgearbeitet werden, um gemeinsam mit Kindern forschend an der Kita-Qualität zu arbeiten. Dazu zählen unter anderem auch Sozialraumerkundungen. Externe Unterstützung, direkt vor Ort, gibt es für Kindergärten ja auch durch Fachberatungen. Welchen Rat würdest du denn Fachberater:innen mitgeben, wenn sie mit Fachkräften aus Kindergärten an der Entwicklung partizipativer Strukturen arbeiten?

Friederike Heller: Als erstes ist es wichtig, zu wertschätzen, dass in den Kitas schon sehr viel läuft und gelingt. Man sollte nicht mit Änderungen starten, sondern zunächst an Bestehendes anknüpfen. Dann aber auch auf Entwicklung beharren, dranbleiben, evaluieren, sich Probezeiträume geben, die fachlich begleitet und moderiert sind. Ich nenne das wertschätzende Beharrlichkeit. Externe Personen sind in den Prozessen mit ihrer fachlichen Expertise oft hilfreich. Die Antworten liegen oft bereits da und es braucht nur die Zeit, die richtige Methode und den Blick, um sie aufzugreifen. Darüber hinaus sind Vernetzung und Austausch elementar. Auch das können Fachberater:innen leisten. Die Selbstbestimmung der Kinder, Partizipation im Team und der Einbezug der Eltern kosten auf jeden Fall viel Kommunikation und Zeit. Aber es lohnt sich immer.

Michael Wutzler: Vielen Dank für das spannende Gespräch!

Kontakt

Dr. Friederike Heller
DisKurs e.V.
mitgemacht
Schillergäßchen 5
07745 Jena
www.mit-ge-macht.de
info@mit-ge-macht.de
03641 2241 688
Dr. Michael Wutzler
Projektkoordinator WisBeV
Fachhochschule Erfurt
Altonaer Straße 25
99085 Erfurt
michael.wutzler@fh-erfurt.de
0361 6700 3217

 

Bild: Colourbox/education

“Vielfalt vor Ort begegnen”—scientific monitoring of a pilot project on diversity-sensitive education in daycare centers for children in Thuringia

On the basis of applied research, the scientific monitoring of the pilot project “Vielfalt vor Ort begegnen” contributes scientific findings on diversity-sensitive education to develop existing pedagogic practices of educators and support the organizational development processes in daycare centers for children in the province of Thuringia. It will be realized from 2021 to 2023 at the University of Applied Sciences Erfurt led by Michaela Rißmann, Barbara Lochner and Christine Rehklau and it is funded by the Thuringian Ministry for education, youth and sports. The aim is to develop a theoretically based and empirically validated training for educators on diversity–reflexivity and the pedagogical handling of heterogeneity in early childhood education and care. The process includes three qualitative and quantitative surveys and their triangulated analysis.